Kleine Einübung in Empathie
Schließen Sie einmal die Augen und stellen Sie sich Folgendes vor:
Sie sind stolzer Inhaber – eher Inhaberin – einer anerkannt hochwertigen Hochschulausbildung, haben etliche Jahre Berufserfahrung, ein natürliches Talent für Ihre Tätigkeit, zeigen Engagement in Ihrem Wunschberuf, der für Sie Berufung ist (oder zumindest einmal war), und ein hohes Berufsethos.
Sie erkennen aber mit der Zeit immer deutlicher, dass Sie rechtlich dazu verpflichtet sind und sich nicht dagegen wehren können, einen viel zu großen Teil Ihrer Arbeitszeit mit einer „Neben“tätigkeit zu verbringen, die viel Konzentration sowie Wissen und Können aus unterschiedlichen Bereichen erfordert, fast immer unter Zeitdruck erledigt wird, anstrengend ist, langwierig, nicht selten entmutigend, psychisch belastend, oft das eigene ästhetische Empfinden verletzt, wenig Erfolgserlebnisse bietet, ungesund ist, eine normale Partnerschaft oder ein normales Familienleben fast unmöglich macht, da sie auch abends und nachts, am Wochenende und in den Ferien getan werden muss.
Diese Tätigkeit hindert Sie daran, Ihre eigentliche Arbeit gut zu machen, die Sie ansonsten als meist sinnvoll und manchmal erfüllend erleben. Die „Neben“tätigkeit aber empfinden Sie oft als vollkommen sinnlos und Sie bekommen nicht selten die Rückmeldung, dass andere das auch so sehen. Sie wird von kaum jemandem wahrgenommen oder gar wertgeschätzt. Sie müssen sich im Gegenteil manchmal dafür rechtfertigen, dass Sie andere mit dieser Tätigkeit demotivieren – und zwar, je genauer und pflichtbewusster Sie arbeiten. Sie ist zudem bis ins Detail vorgeschrieben, justiziabel und mit teilweise genauen Zeitvorgaben versehen. Das Beste, was Sie erreichen können, ist, dass niemand meckert oder gar Rechtsmittel gegen Sie einlegt. Ein Lob für diese Arbeit hören Sie fast nie, höchstens mal von Leidensgenossen, die Ihre Situation kennen.
Sprechen Sie das Problem auch nur an oder denken gar laut über Lösungen nach, bekommen Sie von vielen, oft gesünderen, zufriedeneren Berufskollegen mit einem viel geringeren oder gar keinem Anteil dieser Tätigkeit, oft weiter oben auf der Karriereleiter, sofort zu hören, man sei ja nur neidisch, solle sich nicht so anstellen, unterstelle ihnen zu Unrecht pauschal Faulheit, mache irgend etwas falsch, habe ein Problem mit dem Zeitmanagement und solle halt nicht immer so gründlich bei dieser Tätigkeit sein (was dann allerdings dazu führt, dass man bewusst gegen sein Berufsethos verstößt und sich rechtlich angreifbar macht). Man habe eben damals nicht aufgepasst bei der Wahl seiner Tätigkeit – selber schuld.
Der Arbeitgeber teilt Ihnen auf Ihre Bitten um Entlastung und Gleichbehandlung hin wiederholt mit, man habe Wichtigeres zu tun, als sich um die Privilegien Ihrer ewig unzufriedenen Gruppe zu kümmern. Die anderen müssten auch arbeiten, man solle keinen Unfrieden zwischen gleichwertigen Gruppen säen, das sei schon alles rechtens. In umfangreichen Schriftsätzen haben findige Juristen dies wiederholt nachgewiesen – wahre Zauberkünstler, die fast beliebig viele Wochenstunden dieser Tätigkeit in den 41 Pflichtwochenstunden unterbringen können. Obwohl empirische Studien gezeigt haben, dass Sie durch diese „Neben“tätigkeit mitunter auf die mehr als dreifache Arbeitszeit kommen als Ihre weniger belasteten Kollegen. Bei gleicher Qualifikation und auf dem Papier gleicher Wochenarbeitszeit. Und bei gleicher Bezahlung.
A propos Bezahlung: Extra vergütet wird diese anspruchsvolle, anstrengende, langwierige, entmutigende, psychisch belastende, undankbare, ungesunde, in doppelter Hinsicht demotivierende Tätigkeit nicht. Das Gehalt bleibt immer das gleiche – egal, ob Sie mit einer vollen Stelle nun 0 oder 30 oder 300 Stunden pro Jahr zusätzlich in diese „Neben“tätigkeit zu investieren gezwungen sind. Sie existiert ja auch gar nicht – es sei denn, sie verweigern sie, weil sie krank oder in Elternzeit oder in Mutterschutz sind und Ihre Kollegen das durch Mehrarbeit auffangen müssen. Dann nämlich werden Sie feststellen, wie schnell Sie bei manchen Kollegen durch ihre Weigerung als unkollegial und ehrvergessen gelten, als Problembär, als Paragrafenreiter, nicht teamfähig und nicht belastbar – obwohl Sie vielleicht nur Ihre Gesundheit und Ihre Familie schützen wollen.
Verstehen Sie jetzt, warum Lehrkräfte mit hoher Korrekturbelastung manchmal nicht ganz so entspannt sind?
»Warum hast du denn nicht auch Sport und Erdkunde studiert?«
Haben Sie sich als Vielkorrigierer dieses »Argument« nicht auch schon anhören müssen?
In unserer Abteilung »Bitterböse Polemik« lassen wir die sechs schlausten und blödesten Argumente Revue passieren, die die Wenigkorrigierer gegen unsere Forderung nach einer gerechten Berücksichtigung von Korrekturarbeit in der Schule immer wieder vortragen.
Und wir sagen hier endlich auch, wie Sie sich beim nächsten Mal dagegen wehren können!
- »Warum hast du denn nicht solche Unterrichtsfächer studiert, in denen wenig oder keine Korrekturen anfallen?«
- »Sei doch mal tolerant gegenüber denjenigen, die nicht soviel wie du oder gar nichts korrigieren müssen!«
- »Die Lehrer müssen solidarisch miteinander sein und dürfen sich nicht wegen der Korrekturen auseinanderdividieren lassen.«
- »Du bist doch bloß neidisch auf die Kollegen, die weniger arbeiten müssen als du!«
- »Die Lehrer von Nicht-Korrekturfächern haben’s viel schwerer!«
- »Arbeiten müssen wir schließlich alle!«
Argument Nummer 1
»Warum hast du denn nicht solche Unterrichtsfächer studiert, in denen wenig oder keine Korrekturen anfallen?«
Das haben Sie sich als Vielkorrigiererin oder Vielkorrigierer schon oft anhören müssen: das Argument, Sie hätten sich das Elend mit dem Korrigieren durch die wenig clevere Fächerwahl selbst eingebrockt und stattdessen ja von vornherein eine »leichtere« Fächerwahl treffen können. So nichtswürdig, verächtlich und zynisch das »Argument« ist – sprachlos sollten Sie es nicht hinnehmen. Wehren Sie sich, indem Sie auf das Lehrerbild in der Öffentlichkeit und auf den Wert der Korrekturarbeit hinweisen:
- Die Fächerwahl der Lehrer spiegelt wie in allen anderen Berufen die Begabungen und Neigungen der Berufstätigen wider und orientiert sich – allen Behauptungen von der angeblich berufstypischen »Faulheit« der Lehrer zum Trotz – nicht am Prinzip der Arbeitsvermeidung.
- Das gilt auch hinsichtlich solcher Fächer, in denen regelmäßig und obligatorisch schriftliche Leistungsüberprüfungen stattfinden, die als Klassen- oder Kursarbeiten bekannt sind. Die „Hauptfächer“ entwickeln zentrale Kategorien des Wahrnehmens und Handelns in der Welt und stellen sie dabei den anderen Fächern, den „Nebenfächern“ eben, zur Verfügung. Dass sie dabei auf Schriftlichkeit setzen und diese durch immer komplexere Lese- und Schreibaufgaben stärker und systematischer als andere Fächer trainieren, ist kein Konstruktionsfehler dieser Fächer, der den Lehrern angelastet werden kann, die ein solches Fach vertreten.
- In der nicht-schulischen Öffentlichkeit wird man für das Argument, man hätte doch besser Unterrichtsfächer mit wenig oder ohne Korrekturen wählen sollen, keinerlei Verständnis ernten. Die Logik, mit der dieses Argument den Anspruch der Korrekturfachlehrer auf angemessene Entlastung ihrer Korrekturarbeit widerlegen soll, ist für einen Beobachter von außerhalb besonders verbogen und abseitig. Sie nötigt ihm den Schluss auf, dass die diffamierenden Behauptungen vom arbeitsscheuen Lehrer nicht ganz ohne Berechtigung sind: Wie anders soll er es sich erklären, dass die Korrekturarbeit, die objektiv und quantifizierbar existiert und geleistet wird, gerade von solchen Lehrern als Quantité négligeable dargestellt wird, die durch ihre Fächerwahl ohnehin wenig oder nichts zu korrigieren haben?
- Das Argument, man hätte sich bei der Fächerwahl doch auch ein bisschen schlauer anstellen und weniger arbeitsintensive Fächer studieren können, unterschlägt den entscheidenden Sachverhalt: Auch im öffentlichen Dienst, auch bei den Lehrern wird das Gehalt nicht für die Gerissenheit gezahlt, mit der der Beschäftigte durch geschickte langfristige Lebensplanung die Arbeit meidet, sondern es wird gezahlt für Arbeit, die tatsächlich geleistet wird. Objektiv, unbestreitbar und quantitativ messbar leistet ein Korrekturfachlehrer eine Arbeit, der auf seiten des Nicht-Korrekturfachlehrers nichts gegenübersteht. Geleistete Arbeit aber muss vergütet werden – der älteste Grundsatz der Arbeiterbewegung.
Argument Nummer 2
»Sei doch mal tolerant gegenüber denjenigen, die nicht soviel wie du oder gar nichts korrigieren müssen!«
Kürzlich schrieb mir ein Kollege mit den Fächern Sport und Englisch, der meinen Protest gegen die Korrekturlast bisher mit kritischer Distanz verfolgte:
Sehr viele Lehrer leben fast ausschließlich in einer virtuellen Welt, in einer Art ganz persönlichem Cyberspace. Das bringt sicher letztendlich mehr Frust als Lust. Wenn du den unproduktiven Ärger über deine Korrekturbelastung unterlassen könntest, könntest du über manches lächeln und den anderen gegenüber toleranter sein.
Was ist von dieser Verwendung des Begriffs der Toleranz zu halten? Toleranz ist die Fähigkeit, fremdartiges Sein oder Denken zu respektieren, auch wenn es mit dem gleichen Anspruch auf Gültigkeit in Erscheinung tritt wie das eigene Sein oder Denken. Die Verwendung des Begriffs »Toleranz« gegenüber einem Zustand offensichtlicher Ungerechtigkeit aber entwertet diese hohe moralische Tugend. Benutzte man dennoch den Begriff »Toleranz« gegenüber offensichtlicher Ungerechtigkeit, so wäre dies ein Anzeichen von Sklavenmoral oder von bewusster Irreführung: Sklavenmoral auf seiten desjenigen, der die Ungerechtigkeit widerstandslos erduldet, bewusster Irreführung auf seiten desjenigen, der vom Status Quo zum Schaden anderer profitiert und den Status Quo mit der Forderung nach Toleranz zu schützen trachtet.
Zugespitzt formuliert: Gegenüber der Forderung eines Sport- und Musiklehrers, seine Standard-Fünfunddreißig-Stunden-Arbeitswoche als quasi naturgegebenes Faktum hinzunehmen, ist Toleranz weder moralisch noch lebenspraktisch eine akzeptable Haltung. Diese Form der »Toleranz« wird üblicherweise »Akquieszenz« oder »Appeasement« genannt. Die Folgen solchen Verhaltens sind dem historisch denkenden Menschen durchaus bewusst.
Argument Nummer 3
-
»Die Lehrer müssen solidarisch miteinander sein und dürfen sich nicht wegen der Korrekturen auseinanderdividieren lassen.«
In einem gymnasialen Lehrerkollegium des Ruhrgebiets wurde vor gut zwei Jahren eine neue Entlastungsregelung diskutiert, die die Spitzen-Korrekturbelastungen der Lehrer mit regelmäßig sechs oder sieben Voll-Korrekturen brechen und auf maximal fünf begrenzen sollte. Die neue Regelung wurde letztlich verhindert mit dem ultimativen Argument eines Sport- und Erdkundelehrers: »Ich lasse mir von denen doch nicht meinen Lebensstil kaputt machen!«
Das sollte eigentlich reichen, nicht länger über das Thema »Solidarität unter Lehrern« nachzudenken. Aber wir machen es uns hier nicht so einfach wie besagter »Kollege«. Wir wollen uns der Mühe einer Begriffs- und Sachklärung unterziehen.
Solidarität ist – laut Meyers Großem Taschenlexikon – das Zusammengehörigkeitsgefühl von Individuen oder Gruppen in einem sozialen Ganzen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, in dem sich die Bereitschaft zeigt, störende Eingriffe von außen in das Gruppengefüge abzuwehren. Man unterscheidet
- die »Solidarität der Gesinnung« (Einheitsbewusstsein),
- die »Solidarität des Handelns« (gegenseitige Hilfsbereitschaft) und
- die sachlich begrenzte »Interessen-Solidarität«, die nach Erreichen des gemeinsamen Ziels endet.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es in den Lehrerkollegien in der zentralen Frage der beruflichen Inanspruchnahme des Einzelnen durch die Schule zwischen den Vielkorrigierern und den Wenig- oder Nichtkorrigierern schon längst kein »Einheitsbewusstsein« mehr gibt. Diese beiden Gruppen von Lehrern – auf der einen Seite die Lehrer mit konstanter Fünfunddreißigstundenwoche, auf der anderen Seite diejenigen mit ewiger Fünfzig- bis Sechzigstundenwoche – stellen also kein homogenes soziales Ganzes dar, das sich mit solidarischem Denken oder Handeln gegenüber »störenden Eingriffen von außen« geschlossen zur Wehr setzen müsste. Die Störung liegt vielmehr in der beruflichen Situation der Wenig- oder Nichtkorrigierer: Sie sind in den Besitz ungerechtfertigter Privilegien gelangt und wehren sich rabiat gegen deren Verlust. Erst wenn alle Lehrer der gleichen Schulstufe wieder eine vergleichbare Arbeitsleistung erbringen müssen, wird sich auch wieder ein berufliches Zusammengehörigkeitsgefühl einstellen.
Auch die »Solidarität des Handelns« (gegenseitige Hilfsbereitschaft) können wir als verbindliches Prinzip der Kollegialität unter Lehrern ausschließen, wenn es einer Gruppe von Lehrern vor allem darum geht, sich »den Lebensstil nicht kaputt machen« zu lassen.
Bleibt die sachlich begrenzte »Interessen-Solidarität«, die nach Erreichen des gemeinsamen Ziels endet. Sie ist die geringste unter den Erscheinungsformen der Solidarität, doch in den meisten Lehrerkollegien ist noch nicht einmal sie in Sicht: Wo eine Gruppe dann zu verlieren meint, wenn eine andere Gruppe gerecht entlastet wird, kann auch diese sachlich begrenzte »Interessen-Solidarität« nicht entstehen.
Fazit? Der moderne Solidaritätsbegriff hat sich in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts entwickelt. Wenn Lehrer, die nichts oder nur wenig zu korrigieren haben, für sich von denjenigen, die jährlich Hunderte von Klassen- und Kursarbeiten, im schlimmsten Falle sogar über tausend solcher Arbeiten zu korrigieren haben, Solidarität fordern, dann liegt ein klassischer Fall von Begriffsverwirrung vor. Er ist offenbar bewusst darauf angelegt, einen klaren Sachverhalt durch Berufung auf hehre Traditionen der Arbeiterbewegung zu vernebeln: Wer im gleichen Beruf jahrzehntelang wesentlich weniger als andere arbeitet und doch das Gleiche verdient und gleiche Altersruhegeldansprüche erwirbt, ist Nutznießer eines unverdienten Privilegs.
Solidarität haben – umgekehrt – diejenigen Lehrer verdient, die jahrein, jahraus große Mengen an Korrekturfacharbeit zu erledigen haben, ohne dass diese Arbeit im gegenwärtigen System in nennenswerter Weise als wesentlicher Bestandteil ihrer Berufstätigkeit anerkannt und honoriert würde. Damit das – notfalls auch gegen den Widerstand der Privilegiumsgenießer – geschieht, bedarf es der Intervention des Gesetz- und Verordnungsgebers.
Argument Nummer 4
»Du bist doch bloß neidisch auf die Lehrerkollegen, die weniger arbeiten müssen als du!«
Wenn ein Wenig- oder Nichtkorrigierer unter den Lehrern sich in einer Diskussion um Arbeitszeitgerechtigkeit begrifflich-argumentatorisch in die Enge getrieben fühlt, fährt er gern das Geschütz mit dem Namen »Neid« auf, um sich einen Fluchtweg freizukartätschen: Die Vielkorrigierer sind eben einfach »neidisch« auf die geringere berufliche Belastung der Wenig- oder Nichtkorrigierer, und mit solch niedrigen Beweggründen braucht ein Lehrer ohne Korrekturen sich nicht abzugeben.
Nun ja – haben die Wenig- oder Nichtkorrigierer unter den Lehrern da nicht vielleicht doch einmal recht? Werden die Korrekturfachlehrer denn nicht tatsächlich vom Neid auf das geruhsamere Berufsleben zerfressen, das die Nichtkorrekturfachlehrer jahrzehntelang genießen können?
Neid ist – im Kern des Begriffs – die moralisch minderwertige Einstellung, mit der jemand einem anderen einen Vorteil missgönnt, den derjenige unter den Bedingungen freien und fairen Wettbewerbs hat erwerben können. In diesem Sinne kann ein Geschäftsmann einem Konkurrenten den Auftrag neiden, um den auch er sich, allerdings mit einem schlechteren Angebot und deshalb vergeblich, beworben hat. Neid liegt im schärfsten Sinne des Wortes also dann vor, wenn ein Mensch einem anderem ungerechtfertigterweise einen Vorteil missgönnt, in dessen Genuss er bei Anstrengung vergleichbarer eigener Kräfte auch selbst hätte gelangen können. Ein denkender und selbstständiger Mensch hingegen wird Neid dort nicht empfinden, wo die Natur oder höhere Mächte jemand anderem einen Vorteil zugeschanzt haben, dessen Erwerb also dem Glück zuzuschreiben ist, nicht eigener Anstrengung. In diesem Sinne kann ich nicht wirklich »neidisch« darauf sein, dass die Natur Catherine Deneuve mit langem, seidig schimmerndem Blondhaar ausgestattet hat, während auf meinem Kopf schon seit Mitte dreißig Geheimratsecken und graue Stellen um die Vorherrschaft streiten.
Dies gilt in übertragenem Sinne auch für die Auseinandersetzung mit den Wenig- und Nichtkorrigierern unter den Lehrerkollegen. Dass sie so wenig zu korrigieren haben, verdanken sie einer schulpolitischen Fehlentwicklung in NRW, die dringend der Korrektur bedarf, und keineswegs eigener beruflicher Anstrengung, im Gegenteil: Das Vermeiden übermäßiger beruflicher Anstrengung ist ja vielmehr das Wesensmerkmal solcher Lehrerkollegen, die dank geringer oder fehlender Korrekturtätigkeit für ihren Beruf nur dreißig oder fünfunddreißig Stunden pro Woche arbeiten müssen und eben deshalb ein sehr hohes Bewusstsein der schönen Seiten des Lehrerdaseins entwickelt haben.
Um die mindere moralische Kategorie »Neid« geht es also in der Auseinandersetzung mit solchen Kollegen gar nicht, sondern um die moralisch wesentlich höherwertige Kategorie der Gerechtigkeit: Wo – wie bei Lehrern der gleichen Schulform und -stufe – durch den Genuss gleicher Dienstbezüge die implizite Behauptung gleichwertiger Arbeit aufgestellt wird, da muss gleiche Arbeit auch tatsächlich geleistet werden. Exorbitante Arbeitszeitunterschiede wie zwischen einem Musik- und Religionsrealschullehrer auf der einen und einem Deutsch- und Englischrealschullehrer auf der anderen Seite sind durch kein Argument zu rechtfertigen. Dass sie aber existieren, ist eine eklatante Verletzung des Grundprinzips der Arbeitsplatzgerechtigkeit, das da lautet: »Gleiches Geld für gleiche Arbeit!«
Argument Nummer 5
»Die Lehrer von Nicht-Korrekturfächern haben’s viel schwerer!«
In der GEW-Zeitschrift neue deutsche schule vom Februar 1998 konnte man auf Seite 39 den Brief eines Lehrers aus Iserlohn lesen. Der vertrat darin die auch heute mitunter noch vernehmbare These von einer »höheren Arbeitsbelastung der sogenannten ›NebenfachlehrerInnen‹« gegenüber den Korrekturfachlehrern und versuchte sie so zu begründen:
»Nebenfächer« werden oft von SchülerInnen, Eltern und KollegInnen nicht ernst genommen, es entstehen sehr viel schneller stark stressbelastende Unterrichtssituationen [...]. Dabei wird niemand abstreiten, dass eine normale Mathematikstunde viel einfacher »durchzuziehen« ist, als z. B. eine Musikstunde, in der 30 SchülerInnen gleichzeitig versuchen, ihren Instrumenten Töne zu entlocken oder eine Chemiestunde, in der unter Beachtung vieler Sicherheitsbestimmungen aufwendige und manchmal auch gefährliche Schülerexperimente durchgeführt werden.
Ignorieren wir für einen Moment die verräterische Diktion vom »Durchziehen« einer Mathematikstunde und wenden uns ausschließlich den Inhalten zu.
Die Belastung des Nicht-Korrekturfachlehrers liegt, so entnehmen wir dem Leserbrief, in dem schweren Stress, der in einem Nebenfach – ja nun, warum eigentlich auftritt?
Richtig – der Stress des Nicht-Korrekturfachlehrers tritt deshalb so vehement auf, weil Eltern, Schüler und Kollegen dessen Fach nicht ernst nehmen.
Das Argument trifft uns Korrekturfachlehrer natürlich ins Mark: Physik, Chemie, Erdkunde, Biologie oder Geschichte – das sind curriculare und pädagogische Lachnummern. Hingegen Deutsch, Mathematik, Latein, Französisch oder Englisch – da schwebt der heilige Ernst des wahren intellektuellen Seins über jeder Stunde.
Wenn die Argumentation von der Stressbelastung durch geringe Fach-Relevanz nicht so jämmerlich und armselig und letztlich würdelos wäre, man könnte noch ein bisschen darüber spotten und dann darüber hinweggehen. Tatsächlich aber muss man befürchten, dass manche Kollegen solcher Fächer sich nicht zu schade sind, derlei Ansichten auch in der Öffentlichkeit und nicht nur bei der innerschulischen Verteidigung ihrer Privilegien zu vertreten.
Den schwer belasteten »Nebenfachlehrern« sei zunächst einmal zugestanden, dass Eltern und Schüler tatsächlich ein Fach wie Mathematik oft ernster nehmen als ein nicht-schriftliches Fach. Das hängt aber vor allem mit der Erkenntnis der Eltern, oft auch der Schüler zusammen, dass in einem Fach wie Mathematik fachüberschreitende Schlüsselqualifikationen vermittelt werden, dass das Fach also gegenüber der Welt und ihren Phänomenen zahlreiche zentrale Kategorien des Verstehens und Möglichkeiten des Handelns an die Hand gibt, die andere Fächer (darunter auch die anderen schriftlichen) eben nicht an die Hand geben können.
Hat das aber je einen Physik-, Informatik- oder Biologielehrer, der sein Fach engagiert zu vertreten versteht, davon abgehalten, es mit Kraft und Leidenschaft zu unterrichten? Wohl kaum. Im Gegenteil, die Infiltration fast aller gesellschaftlichen Bereiche durch Grundkategorien technisch-naturwissenschaftlichen Denkens in den letzten gut einhundert Jahren erleichtert es dem Physik-, Informatik- oder Biologielehrer, sein Fach mit der Positivität des Objektiven und der Aura des Modernen zu versehen.
Ähnlich kann man gegenüber den nichtschriftlichen geisteswissenschaftlichen Fächern wie Geschichte, Politik oder Erdkunde argumentieren. Sie können Themen aus dem Leben der Schülerinnen und Schüler aufgreifen, die quasi »auf der Hand« liegen, also über ein hohes pädagogisch nutzbares Motivationspotential verfügen, das durch den Lehrer nicht erst erzeugt werden muss, sondern vorausgesetzt werden kann.
Es hängt also offenbar viel von dem je nach Lehrerpersönlichkeit individuellen Fächerverständnis ab, ob ein Nebenfach von Eltern und Schülern »ernst genommen« wird oder nicht – und keinesfalls von der intrinsischen Struktur des Faches. Und genauso verhält es sich mit der Stressbelastung während des Fachunterrichts: Sie wird – je nach Lehrerpersönlichkeit – individuell unterschiedlich stark wahrgenommen und verarbeitet und ist damit objektiv kaum messbar. Sie fällt auch keineswegs nur in den »Nebenfächern« an, sondern in allen Fächern.
Objektiv messbar ist hingegen die Arbeitszeit, die für die Vor- und Nachbereitung eines Faches aufgewendet werden muss. Solange mit fadenscheinigen Argumenten wie dem von der »höheren Stressbelastung« in »wenig ernst genommenen Nebenfächern« davon abzulenken versucht wird, dass es in den Korrekturfächern durch das Beurteilen von Klassen- und Kursarbeiten jede Woche eine exakt quantifizierbare, große Menge an Arbeit zu leisten ist, der in den Nicht-Korrekturfächern nichts gegenübersteht, solange wird an den Schulen in der Frage der Arbeitszeitgerechtigkeit auch keine Ruhe einkehren.
Das allerletzte Argument
Argument Nummer 6
»Arbeiten müssen wir schließlich alle!«
Ja – stimmt! Der eine mehr, der andere weniger!
Das finden Sie jetzt doch zu boshaft? Gut: Lassen wir einfach einmal die Fakten sprechen – in Gestalt des Klausurplanes der Q1 eines real existierenden Gymnasiums in NRW aus dem November 2015.
Fach
Anzahl der Schüler im Kurs
Anzahl der Klausur schreibenden Schüler
Lk Mathematik
29
29
Lk Geographie
15
15
Lk Deutsch
12
12
Lk Deutsch
22
22
Lk Englisch
10
10
Lk Englisch
28
28
Lk Pädagogik
22
22
Lk Biologie
18
18
Gk Mathe
27
27
Gk Mathe
27
27
Gk Geschichte
23
5
Gk Geschichte
29
6
Gk Deutsch
23
23
Gk Deutsch
22
22
Gk Englisch
25
25
Gk Englisch
17
17
Gk Spanisch
29
29
Gk Latein
8
6
Gk Pädagogik
25
22
Gk Geographie
19
6
Gk SoWi
26
11
Gk SoWi
17
6
Gk Physik
24
12
Gk Chemie
25 1
Gk Sport
23 3
Gk Sport
27
3
Gk Sport
28
0
Gk Informatik
8
2
Gk Biologie
29
18
Gk Biologie
28
25
Gk Kunst
17
3
Gk Musik
14
0
Gk Literatur
31
0
Gk evang. Religion
31
0
Gk kath. Religion
25
1
Gk Philosophie
22
0
3 Projektkurse
53
[Projektarbeit statt Facharbeit]